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Staatsverständnisse

Staatsverständnisse

Konzept – Verlauf – Ausblick

Bei allen staatstheoretischen Überlegungen sollten wir stets bedenken, dass wir lediglich „Zwerge auf den Schultern der Gelehrtengiganten früherer Zeiten sind“ (Carl Schmitt).

Mit der Veränderung des Staates hat sich im Laufe der Jahrhunderte auch das Staatsverständnis gewandelt, wenn auch bestimmte Ideen, Fragestellungen und Erkenntnisse über die Jahrhunderte hinweg aktuell geblieben sind. Das bedeutet freilich nicht, dass die Entwicklung von realem Staat und Staatsdenken stets synchron verlaufen müsste. Es handelt sich vielmehr um zwei klar voneinander getrennte Bereiche, die sich aber wechselseitig – teilweise sogar stark – beeinflussen. Zwischen dem abstrakten, also bloß vorgestellten Staat und einem konkreten, selbst erlebten Staat gibt es durchaus Verbindungen. Daher lohnt es sich, in verschiedenen Epochen und unterschiedlicher Ausprägung sich damit intensiver auseinander zu setzen, wie der Staat verstanden worden ist, entweder positiv als Garant von Schutz und Freiheit des Individuums oder negativ als „Leviathan“, in dem die Menschen den Schutz des Staates nur durch den Verzicht auf ihre individuelle Freiheit erkaufen können. Zwischen diesen Polen gibt es freilich noch eine ganze Reihe von Zwischenstufen, die es verdienen, näher untersucht zu werden. Staatsverständnisse bzw. Staatsideen sind im Allgemeinen nicht so (relativ) kurzlebig wie konkrete Staatsgebilde, sie „veralten“ nicht so schnell, sondern haben eine viel längere „Laufzeit“. Beispielhaft sind die staatsphilosophischen Ideen, die Platon und Aristoteles vor mehr als zweitausend Jahren entwickelt haben, und die heute noch die Diskussion beflügeln. Die Erkenntnisse des Florentiners Niccoló Machiavelli und des Engländers Thomas Hobbes im 16. bzw. 17. Jahrhundert, aber auch die Aufklärungsphilosophie Immanuel Kants sowie die idealistische Staatsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels aus dem 18. bzw. 19. Jahrhundert haben dauerhafte Spuren in der Staatsdiskussion hinterlassen. Georg Jellineks Allgemeine Staatslehre und Max Webers sozialwissenschaftlich fundierte Staatstheorie waren maßgeblich für das 20. Jahrhundert. Alle diese Theorien sind auch in den heutigen Debatten um den modernen Staat nicht wegzudenken.

Gegenwärtig sind wir Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Die Regierungen verlieren einen Teil ihrer Durchsetzungsmacht an internationale Konzerne, vor allem aber an das algorithmengesteuerte globale Finanzsystem, teils freiwillig, teils unfreiwillig. Die Europäisierung verstärkt diesen Trend eher noch, als dass sie dem entgegenwirken würde. Dieses Bild von einem unwideruflichen Abschied des Staates könnte aber durchaus falsch sein. Entschlossenen Regierungen stehen nach wie vor vielfältige Handlungsmöglichkeiten zur Durchsetzung wichtiger Anliegen zur Verfügung. Der Nationalstaat ist der Ort, auf den man sich rückbesinnen kann, wenn die internationale Ordnung im Chaos versinkt, ein im Übrigen keineswegs fernliegender Gedanke. Angesichts ihrer partiellen Durchlässigkeit spielen dabei im Internetzeitalter Grenzen, die für den Territorialstaat alter Prägung unverzichtbar waren, zwar keine so große Rolle mehr. Im Zuge der Massenmigration erscheinen die früher üblichen Grenzzäune sogar eher als Relikte einer vergangenen Zeit. In Zeiten einer überbordenden Migrationswelle kann aber auch auf sie nicht verzichtet werden. Auf der anderen Seite ist es zweifelhaft, ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird. Mit dem Kosmopolitismus hat sich jedoch in vielen Staaten insbesondere bei intellektuellen Eliten eine Strömung etabliert, die den Nationalstaat durch eine kosmopolitische Demokratie zugunsten von individuellen Rechten einerseits und einer globalen Herrschaftsordnung andererseits zumindest zurückdrängen, wenn nicht ganz abschaffen will. Die Protagonisten dieser ideologischen Strömung berufen sich dabei insbesondere auf Kants kleine Schrift Der ewige Frieden, die auch die Charta der Vereinten Nationen beeinflusst hat. Die Gegner unterstellen den Kosmopoliten teils Naivität, teils böse Absichten.

Der abendländische Staat

Platon und Aristoteles kannten den modernen Staat noch nicht, insofern sind ihre Ideen nicht unmittelbar auf unsere gegenwärtige Situation anwendbar. Der moderne Staat hat seinen Ursprung vielmehr in der italienischen Spätrenaissance, wo nicht nur das heutige Staatsdenken seinen Ursprung findet, sondern auch die Grundzüge des Handelskapitalismus entstehen. Verkörpert wird dieses Saatsdenken durch den Florentiner Niccolò Machiavelli, kristallisiert sich dann jedoch vor allem in den Religionskriegen in Frankreich (Jean Bodin) und England (Thomas Hobbes) heraus. Der Weimarer Staatsrechtslehrer Carl Schmitt hat diesen Staat die Krönung okzidentaler Rationalität genannt und zugleich den Untergang dieses Staates verkündet. Es ist ein „säkularer“ Staat, der auf einem – allerdings ganz unterschiedlich gedachten – „Gesellschaftsvertrag“ zwischen dem Monarchen und dem Volk beruht. Es ist ein Staat, der – zumindest theoretisch – über die uneingeschränkte Souveränität verfügt. Die Aufklärung hat ihre tiefen Spuren im europäischen Staatsdenken hinterlassen. Spätestens seit Hobbes können wir von einem modernen Staat sprechen, der dann mehr als fünfhundert Jahre die Diskussion beherrscht hat. Viele berühmte Staatsdenker haben sich an dieser Staatsdiskussion beteiligt, erwähnt seien hier – stellvertretend für viele Andere – nur Immanuel Kant und Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Jean-Jacques Rouseau und Charles de Montesquieu. Ob sich dieser abendländische Staat inzwischen überlebt hat oder nach wie vor die Diskussion bestimmt und zumindest als Idee noch vorhanden ist, ist Gegenstand der Erörterungen in der Reihe „Staatsverständnisse“.

Die Leitidee der „Staatsverständnisse“

Eine Schriftenreihe, in der vor allem mehr oder weniger bekannte Philosophen bzw. Philosophinnen und Theoretiker bzw. Theoretikerinnen (teilweise erneut) behandelt werden, lässt sich nur aus einer besonderen Fragestellung rechtfertigen. Diese liegt – wie der Reihentitel nahelegt – zunächst ganz allgemein in der Fokussierung auf das Staatsverständnis eines bzw. einer bestimmten Staatsdenkers bzw. Staatsdenkerin (z.B. Thomas Hobbes oder Hannah Arendt), einer spezifischen Denkschule bzw. einer Stilrichtung des Staatsdenkens (z.B. Postmoderne oder Feminismus) oder einer eingrenzbaren Epoche (z.B. Renaissance oder Weimarer Republik). Die Analyse des Staatsverständnisses in anderen Ländern (sowohl im europäischen als auch im außereuropäischen Umfeld) und der Vergleich verschiedener Beispielfälle können dabei eine hilfreiche Ergänzung sein. Die Fokussierung auf Themenfelder und Politikbereiche wie z.B. Staatsräson oder Ausnahmezustand ermöglicht überdies vertiefte staatstheoretische und -praktische Einsichten.

Darüber hinausgehend wurde die im Nomos Verlag, Baden-Baden, erscheinende Reihe Staatsverständnisse im Jahre 2000 jedoch mit der besonderen Intention begründet, die Anschlussfähigkeit des jeweiligen Staatsdenkens an die heutige Diskussion zu gewährleisten. Dies kommt exemplarisch in der Leitfrage der Reihe zum Ausdruck: Was lässt sich den Ideen früherer und heutiger Staatsdenker für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates entnehmen? Interessant sind hierfür die Theorien der Staatsdenker und Staatsdenkerinnen, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Globalisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Um die Frage nach dem Erkenntnisgewinn nicht unbeantwortet im Raum stehen zu lassen, ist jeder Herausgeber/jede Herausgeberin gehalten, für seinen/ihren Band einen Kernsatz als Antwort auf die erkenntnisleitende Fragestellung zu formulieren, der auf der Rückseite des betreffenden Bandes drucktechnisch besonders hervorgehoben wird. Als Beispiel hierfür lassen sich die der Wirkungsgeschichte verpflichteten neueren Bände über Hobbes und Rousseau anführen. Z.B. lautet die Quintessenz des Hobbes-Bandes „Der sterbliche Gott“: „Thomas Hobbesʼ Erkenntnis, dass die Schutzverpflichtung des Staates und die Gehorsamspflicht der Bürger sich gegenseitig bedingen, gilt auch heute“. In dem Band „Der Bürger als Souverän“ lautet die Antwort auf die Kernfrage: „Jean-Jacques Rousseau ist nicht nur mit seinem Gesellschaftsvertrag berühmt geworden, sondern er hat mit der Volonté générale auch einen Schlüsselbegriff für eine radikaldemokratische Staatstheorie geschaffen“.

Wiederaneignung der Klassiker

Unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“, die aus staatswissenschaftlicher und nicht so sehr aus philosophischer bzw. ideengeschichtlicher Perspektive erfolgen soll, wird auch auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, immer wieder zurück zu kommen sein. Dies ist z.B. durch Bände zu Platons Politeia und seinen Nomoi (Band 100), zu der „Politik“ des Aristoteles, aber auch zum Peloponnesischen Krieg des Thukydides, zur Stoa und zu Ciceros Schriften (z.B. „De re publica“ bzw. „De legibus“) geschehen. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsverständnisseveröffentlichten Arbeiten liegt allerdings nicht so sehr auf den antiken, sondern vielmehr auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der als Diagnostiker der Krise wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, John Locke, den „Kronzeugen“ des Liberalismus, Jean-Jacques Rousseau den Protagonisten der volonté générale, bis hin zu Karl Marx, den politisch einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Weimarer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hermann Heller und Hans Kelsen und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern.

Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang ebensowenig verzichtet werden wie auf Überlegungen zur Staatstheorie. Der Reihe Staatsverständnisse geht es allerdings nicht allein um die Darstellung bestimmter Philosophen oder Theoretiker in ihrem politisch-gesellschaftlichen bzw. geistig-literarischen Umfeld, sondern in erster Linie um den Beitrag dieses Staatsdenkers bzw. dieser Staatsdenkerinzur Entwicklung eines spezifischen Verständnisses vom Staat, das für uns Heutige wichtig ist bzw. wichtig werden könnte. Dies gilt umso mehr, als sich die „alte“ Weltordnung in Auflösung befindet und die Strukturen einer „neuen“ Weltordnung noch nicht klar erkennbar sind. Da der Gesamtumfang jedes Einzelbandes der Reihe begrenzt ist, kann allerdings nicht das Gesamtwerk des betr. Staatsdenkers abgehandelt werden. Eine enzyklopädische Darstellung ist weder gewollt, noch kaufmännisch-technisch möglich. Die Konzentration auf wenige Beiträge macht es vielmehr notwendig, bewusst Akzente zu setzen. Das kommt den einzelnen Bänden durch eine Fokussierung auf das Wesentliche i.d.R. sehr zugute.

Alte und junge Klassiker des Staatsdenkens

Bei den behandelten bzw. noch zu behandelnden Staatsdenkern reicht das Themenspektrum von Thomas von Aquin und dem „Goldenen Zeitalter“ Spaniens – über die Renaissance, jene für das moderne Verständnis des Staates so ungeheuer wichtigen Epoche, – bis hin zu Ferdinand Lassalle, dem Stammvater der Sozialdemokratie, und schließlich bis ins 20. und teilweise bis ins 21. Jahrhundert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Mitte des 20. Jahrhunderts der Funke der Innovation im Staatsdenken die Seiten gewechselt hat. Von der rechtsrheinischen (deutschen) ist er auf die linksrheinische (französische) Seite übergesprungen. Seither verkörpern die französischen Staatstheoretiker der Gegenwart – wie z.B. Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Claude Lefort, Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy – gewissermaßen die Avantgarde des Staatsdenkens. Sie verdienen vor allem deshalb größte Aufmerksamkeit, weil sie sich weitgehend tabulos mit den Problemen des modernen Staates – Demokratiedefizit, Machtballung, Korruption etc. – auseinandersetzen. Zu diesem engeren Kreis der kritischen Analytiker gehören auch Giorgio Agamben, Chantal Mouffe und Ernesto Laclau sowie Michael Hardt und Antonio Negri.

Daneben kommen aber auch weitere „Klassiker“ des Staatsdenkens, wie z.B. Adam Smith, Henri de Saint-Simon, Benjamin Constant und Max Weber, zu Wort. Die deutschen bzw. deutschsprachigen Staatsdenker des 20. Jahrhunderts werden ebenfalls berücksichtigt, um damit den Bogen bis in die Gegenwart zu schlagen. Neben Bänden zum Staatsverständnis von Ernst Cassirer, Norbert Elias, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Hans J. Morgenthau, Karl Loewenstein, Franz L. Neumann, Otto Kirchheimer, Ernst Fraenkel, Karl Jaspers und Jürgen Habermas treten Bände zu den bekannten Staatsrechtslehrern des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der jungen Bundesrepublik: Georg Jellinek, Hugo Preuß, Gustav Radbruch, Hans Kelsen, Rudolf Smend, Gerhard Leibholz und Wolfgang Abendroth. Staatstheoretikern der jüngeren Generation wie Peter Häberle, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Ulrich K. Preuß sind jeweils einzelne Bände der Staatsverständnisse gewidmet. Die Behandlung solcher jüngerer Theoretiker schließt natürlich ein gewisses Risiko ein, weil sich die Zeitgenossen möglicherweise noch kein abgeschlossenes Urteil über den zu behandelnden Staatstheoretiker gebildet haben. Andererseits erhebt die Reihe „Staatsverständnisse“ den Anspruch, innovativ zu sein, und das heißt oft auch, neue, möglicherweise riskante Wege zu beschreiten. Neben den etablierten Staatsdenkern kommen daher auch neue, innovative Theoretiker und Theoretikerinnen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch aus anderen Kulturkreisen zu Wort. Neben Judith Butler geht es dabei u.a. um John Rawls, Charles Taylor und Michael Walzer sowie um den außerordentlich produktiven Slowenen Slavoj Žižek.

Denkschulen und Wirkungsgeschichte des Staatsdenkens

Werden die Kerngedanken eines Staatsdenkers der eigenen Reflexion als notwendige Voraussetzung der Erkenntnis von einer oder mehrerer Wissenschaftlergenerationen zugrundegelegt, dann könnte man von einer Denkschule sprechen. Oft ist das Staatsdenken nicht nur durch einen Theoretiker bzw. eine Theoretikerin zu charakterisieren, sondern auch dadurch, dass dieser/diese gelegentlich so stark auf sein/ihr wissenschaftliches Umfeld einwirkt, dass ein anderes Denken als falsch oder jedenfalls nicht adäquat bzw. nicht zeitgemäß angesehen wird. Solchen Denkschulen nachzuspüren, sieht die Reihe „Staatsverständnisse“ als eine ihrer Aufgaben an. Es versteht sich von selbst, dass die „Giganten“ Platon und Aristoteles in der Antike, oder Kant, Hegel und Marx in der Gegenwart solche Denkschulen begründet haben, die auch lange nach ihrem Tod Bestand haben. Solchen Besonderheiten gehen insbesondere die wirkungsgeschichtliche Analysen der Reihe nach. Es ist die Perspektive des Betrachters, die maßgeblich ist für die Rezeption. Mit der Veränderung dieser Perspektive im Laufe der Zeit verschiebt sich auch der Blick auf den Staatsdenker. Die Erkenntnis: „Jede Zeit erschafft sich ihren eigenen Hobbes, Rousseau oder Hegel“, könnte als Motto für die Behandlung der Wirkungsgeschichte jedes großen Staatsdenkers gelten.

Staatsutopien und realer Staat

Staatsdenker stellen ihre Überlegungen regelmäßig vor dem Hintergrund des Staates an, in dem sie leben, auch wenn sie diesen möglicherweise ablehnen, ihn sogar abschaffen oder zumindest gründlich reformieren wollen. Oft konfrontieren sie diesen realen Staat mit dem Idealbild eines vergangenen Staates, das der Wirklichkeit nicht unbedingt entsprechen muss („Goldenes Zeitalter“). Auf der anderen Seite stehen die in die Zukunft gerichteten Staatsutopien, die oft so voraussetzungsvoll (selbstlose und gute Menschen; Philosophenkönige) gedacht werden, dass sie in der rauen Wirklichkeit keine Realisierungschance haben. Dementsprechend wird das Verständnis bzw. Nichtverständnis des Staates durch die Anarchisten ebenso behandelt wie die Utopien bzw. Dystopien selbst.

Umgekehrt wird zwar selten ein Staat gegründet oder neu konstituiert, der genau dem Vorbild eines zuvor erdachten Staatsideals entspricht, das heißt aber nicht, dass nicht doch u.U. wichtige Impulse von einem solchen Staatsmodell oder Staatsideal ausgehen, die dann oft genug in der neuen Verfassung ihre Spuren hinterlassen. So sind etwa die Französische Revolution und die sich daraus entwickelnden Verfassungen ohne die Kenntnis des Staatsdenkens von Jean-Jacques Rousseau oder von Emmanuel Joseph Sieyès nur schwer zu verstehen. Auch der Einfluss der sog. Federalists (Alexander Hamilton, James Madison und John Jay) oder – viel früher – von John Locke auf die amerikanische Verfassung ist nachweisbar. Hugo Preuß hat die Weimarer Verfassung, und Hans Kelsen hat die Verfassung der Republik Österreich nachhaltig beeinflusst. Der Einfluss Herman Hellers auf die Formulierung „sozialer Rechtsstaat“ ist unverkennbar.

Staatspraxis und Länderstudien

Dazu gehört auch, dass neben den Staatstheoretikern in Zukunft verstärkt auch solche Staatspraktiker behandelt werden sollen, die durch Schriften, Reden und Taten Einfluss auf die Diskussion um den Staat genommen haben. Den Anfang hat ein Band zum Staatsverständis von Martin Luther sowie Fürst Otto von Bismarck gemacht, geplant sind darüber hinaus Bände zu Charles de Gaulle und zu Wladimir I. Lenin. Dass auch in dieser Publikationslinie ein – vor allem politisches – Risiko steckt, brauche ich nicht zu betonen. Mit dem Band über Staatsverständnis des Reformators Martin Luther haben wir Neuland betreten, auch diese Richtung soll fortgesetzt werden. Hier öffnet sich ein breites Feld theologischer Studien, die sich mit dem Verhältnis der Religion zum Staat bzw. umgekehrt des Staates zu den Religionen befassen sollten. Als neues Feld kommen nunmehr verstärkt die Länderstudien hinzu, zunächst ging es um China, Korea und Japan, später um Italien und Frankreich. Weitere Länderstudien sollen folgen.

Deutsch als Wissenschaftssprache

Die Reihe Staatsverständnisse hat sich zum Ziel gesetzt, das Deutsche als Wissenschaftssprache zu fördern. Die Bände der Reihe erscheinen daher im Normalfall in deutscher Sprache. Das bedeutet, dass keine englischsprachigen Beiträge in einen deutschsprachigen Band aufgenommen werden können. Vielmehr müssen fremdsprachige Beiträge ins Deutsche übersetzt werden. In besonderen Fällen kann ein Band aber auch in englischer Sprache erscheinen. Dann müssen allerdings alle Beiträge dieses Bandes in englischer Sprache vorgelegt werden. Erstmals im Jahre 2017 sind zwei rein englischsprachige Bände in der Reihe Staatsverständnisse erschienen und zwar zu Slavoj Žižek und zu Alain Badiou. Es handelt sich zunächst um einen „Pilotversuch“, der zeigen soll, ob wir auf diese Weise im englischsprachigen Raum Fuß fassen können. Die primäre Wissenschaftssprache der Staatsverständnisse bleibt aber natürlich das Deutsche. Gemischtsprachige Bände sind nach wie vor nicht vorgesehen.

Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich nicht in erster Linie an (politische) Philosophen, sondern gerade auch an Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. Das bedeutet, dass Sprachniveauund Sprachduktus auf diese potenzielle Leserschaft abgestimmt sein müssen. Auch komplexe Sachverhalte sollen also verständlich dargestellt werden. Es versteht sich von selbst, dass philosophisches oder soziologisches „Fachchinesisch“ ebenso vermieden werden muss wie eine allzu einseitige Sichtweise („Scheuklappen“). Angestrebt ist vielmehr eine Darstellung, die „anschlussfähig“ an den allgemeinen Diskurs ist, sowie eine klare („luzide“) und aussagekräftige Sprache, allerdings durchaus mit dem Mut zur Pointierung. Wissenschaftliches Denken setzt allerdings neben einer gewissen Methodik auch eine bestimmte Begrifflichkeit voraus. Wir haben es also mit Begriffen zu tun haben, die – wie Hegel sagt – die Wirklichkeit gestalten. Hier sollen sie hingegen in erster Linie als Werkzeuge zum Verständnis eines Staatsdenkers bzw. seines Staatsdenkens, seiner Zeit, seines geistigen Umfeldes sowie seiner Außenwirkung dienen. Tatsächlich bezieht sich das Staatsdenken zumeist auf einen abstrakten (Ideal-) Staat; es geht dabei also weniger um Institutionen, Akteure und Aktionen eines konkreten Staatswesens als um ein bestimmtes Verständnis des Phänomens Staat.

Eigene Staatsvorstellung

Bei der Lektüre staatstheoretischer Texte wird sich jeder die Frage stellen, welchen Staat (Typ, Form, Ausprägung) er/sie vor Augen hat, wenn er/sie an den Staat denkt. Ist es der Staat, der uns in Gestalt der Sozialverwaltung gegenübertritt, die für unsere „Daseinsvorsorge“ (Ernst Forsthoff) zuständig ist? Oder geht es vor allem um den Schutz vor Kriminalität und terroristischen Anschlägen durch einen starken Staat? Ist es der Rechtsstaat, der in Verbindung mit der Demokratie unserem heutigen Staatsverständnis – jedenfalls im Westen – am nächsten kommt? Ist es der humanitäre Staat, der sich auch der außerhalb des Staatsgebites lebenden Menschen annimmt, die in Not geraten sind? China führt uns überdeutlich vor Augen, dass auch mit Hilfe eines doktrinären Staatskapitalismus wirtschaftlicher Wohlstand und außenpolitischer Einfluss eines Staates enorm gesteigert werden können. Was sind dann aber die Kernbestandteile des demokratischen Rechtsstaats, auf die nicht verzichtet werden kann? Das ist im Übrigen keine Frage, die nur in autoritären Staaten gestellt werden muss, vielmehr befinden sich auch die Demokratien nach westlichem Muster in Gefahr, die Sicherheit zu überbetonen und dabei Freiheit und Recht allzu sehr zu vernachlässigen. Auf der anderen Seite des Spektrums macht das Beispiel gescheiterter Staaten, wie z.B. Somalia, darüber hinaus deutlich, dass es eines funktionierenden Rechts- und Sozialstaates bedarf, um Schutz und Sicherheit, einen zumindest relativen Wohlstand sowie Freiheit und Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Dies sind Probleme, mit denen sich die Reihe „Staatsverständnisse“ bereits befasst hat und auch in Zukunft befassen wird.

Rüdiger Voigt